Noch einmal zu den Verlusten mit den Jährigen
Das erste Drittel der Saison ist gelaufen, und jetzt beginnt der ernste Teil des Lebens einer Sporttaube. Mittlerweile weiß auch jeder Züchter, wo er leistungsmäßig mit seinen Tauben steht. Die ersten hochgesteckten Ziele sind erreicht, manche auch nicht. Manche Tauben überraschen uns positiv, andere bleiben hinter den Erwartungen und den Erfolgen der vergangenen Jahre zurück. Aber das kennen wir ja alles, weil es sich alljährlich wiederholt.
Seit Beginn der Vorflüge gibt es mancherorts leider höhere Verluste insbesondere bei den jährigen Tauben zu beklagen. Darüber habe ich auch schon diverse Male geschrieben. Heute werde ich aber mal ganz aktuelle Zahlen aus dem Jahr 2022 präsentieren.
In meinem eigenen Regionalverband wurden bisher vier Wettflüge absolviert. Alle verliefen gut und ohne besondere Vorkommnisse. In unserem Regionalverband werden ab der zweiten Preistour gemeinsame Auflässe auf Regionalverbandsebene durchgeführt. Das bedeutet auch gleiche Bedingungen für alle. Unser Regionalverband zählt 13 RVen mit etwa 270 reisenden Schlägen.
Der Regionalverband reist aus Südwest und ist, aus der Flugrichtung betrachtet, lang gestreckt mit einer Gesamtlänge von gut 50 km bei einer maximalen Breite von 35 km. Die ersten vier Wettflüge wurden von 185 km bis 335 km mittlerer Entfernung gestartet.
Die ersten beiden Wettflüge fanden bei Gegenwind statt, beim dritten und vierten herrschte Rückenwind. Dementsprechend waren die Fluggeschwindigkeiten auch unterschiedlich. Auf den ersten beiden Gegenwind-Flügen waren in manchen RVen die Konkurszeiten der Jährigen-Liste sogar kürzer als die Konkurszeit der Gesamtliste. Daraus schließe ich auf eine gute konditionelle Vorbereitung der Jährigen.
Obwohl für alle RVen/Züchter die gleichen Voraussetzungen bei den ersten vier Wettflügen bestehen, gibt es gravierende Unterschiede bei den Verlustzahlen der jährigen Tauben.
In der RV mit den geringsten Verlusten bei den Jährigen (im Folgenden RV 1 genannt) sank die Zahl der gesetzten jährigen Tauben vom ersten bis zum vierten Wettflug von 360 auf 340 Tauben, diese wurden von 15 Züchtern gesetzt.
Das ist ein Schwund von 5,5 %. In der RV mit den höchsten Verlusten (im Folgenden RV 2 genannt) wurden von 32 Züchtern auf der ersten Preistour 444 Tauben gesetzt und auf der vierten Preistour von denselben 32 Züchtern nur noch 364 Tauben. Das entspricht einem Schwund von 18 % aller jährigen Tauben. In allen anderen RVen des Regionalverbandes liegt der Schwund der jährigen Tauben bei etwa 8?14 %. Sowohl die RV 1 als auch die RV 2 liegen in der hinteren Hälfte des Regionalverbandes mit einem mittleren Abstand zueinander von etwa 15 km.
Ich setze voraus, dass auf den ersten vier Flügen keine Jährigen aus taktischen Gründen zurückbehalten wurden, sodass die geringeren Taubenzahlen also nur auf nicht heimgekehrte oder ermüdete und erschöpfte Tiere, die pausieren müssen, zurückzuführen sind.
Wo liegt denn jetzt aber der Grund für die dreifach höheren Verluste bei den Jährigen in der RV 2 mit 18 % Schwund gegenüber den 5,5 % Schwund in der RV 1?
Ganz wesentlich unterscheiden sich die beiden RVen in der Durchführung der Jungreise. In der RV 1 werden neben dem RVProgramm auch sehr intensiv freie Wettflüge mit den Jungtauben durchgeführt. An diesen freien Wettflügen, die immer in der Wochenmitte stattfinden, beteiligen sich fast alle Züchter dieser RV 1. Auch die Züchter aller umliegenden RVen können an den freien Wettflügen teilnehmen, aber es wird nur eingeschränkt Gebrauch davon gemacht.
Züchter aus der RV 2 nehmen nur sehr vereinzelt und auch nicht regelmäßig daran teil. Der Zusatznutzen der freien Wettflüge in Bezug auf die Ergebnisse der Jungreise ist in unserem Regionalverband unbestritten.
Auch die Züchter der umliegenden RVen, die sich an den freien Wettflügen beteiligen, sind regelmäßig in den vorderen Rängen ihrer jeweiligen RV zu finden.
Auch wenn die freien Wettflüge von manchen Züchtern zu „Kirmesflügen“ degradiert werden, verhilft es den Jungtauben zu einem routinierteren Korbaufenthalt und Heimfliegevermögen. Dass diese zusätzlichen Flüge auch einen Effekt auf die Verlustrate bei den jährigen Tauben haben, wurde meines Wissens bisher noch nicht untersucht.
Neben dem Training der körperlichen Leistungsfähigkeit hat auch das Training der kognitiven Fähigkeiten, und dazu zählt auch der Orientierungssinn, maßgeblichen Einfluss auf die Reiseleistung. Wenn die Tauben eines Liebhabers immer wieder aus der falschen Richtung kommen, dann hat es auch etwas mit mangelnder Schärfung der Sinne (kognitive Fähigkeiten) seiner Tauben zu tun.
Wenn Tauben gegen den Wind fliegen, bedarf es mehr der körperlichen Leistungsfähigkeit, wenn Tauben mit dem Wind hohe Fluggeschwindigkeiten fliegen, bedarf es mehr der kognitiven Fähigkeiten.
Mein Schlagpfleger Willi van Beers hat schon vor über zwanzig Jahren dieses Bewusstsein entwickelt und die Spitzenflieger bei hoher Fluggeschwindigkeit als besonders „intelligent“ bezeichnet. Die Spitzenflieger bei Gegenwind bezeichnete er meist als „Kampfschweine“.
Und immer hat er gesagt: „Sudhoff, wir müssen nicht nur die Starken, sondern auch die Intelligenten in den Zuchtschlag setzen.“ Wie recht er hatte!
Wenn wir herausfinden wollen, welchen Einfluss eine ausgeprägte Teilnahme an den Trainings- und Preisflügen der Jungtiere auf die Verluste der jährigen Tauben hat, müssen wir mit großem Aufwand die Zahlen vergleichen. Auch die Bedeutung des vereinzelten oder regelmäßigen winterlichen Freiflugs auf die Erhaltung des Orientierungssinnes beziehungsweise der Kognition muss dringend untersucht werden.
Das Brieftaubenwesen ist in das bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen. In der Begründung hierzu heißt es: „Außerdem gilt es, die stetigen Aktivitäten [und] die Anforderungen an das Tierwohl entsprechend dem wissenschaftlichen Fortschritt aufzugreifen und den Lebensbedingungen anzupassen.“
Kann man hieraus nicht die Verpflichtung ableiten, mit wissenschaftlichen Methoden den unbestritten hohen Verlusten bei den jungen und den jährigen Tauben auf den Grund zu gehen?
Ich bin sicher, jetzt vielen Züchtern aus dem Herzen zu sprechen, die sich die hohen Verluste bei ihren Tauben einfach nicht erklären können. Ich wünsche allen Lesern eine erfolgreiche Reisesaison, die bei gut bedachten Auflässen sicherlich auch mit geringen Verlusten einhergeht.
Ihr Burkard Sudhoff